Auferstehung

Wir sprechen darüber, was junge Muslime motiviert, sich in die Luft zu sprengen. Eine bei der Auferstehung fällige Belohnung? Wird Muslimen überhaupt eine Auferstehung in Aussicht gestellt? Wir geben „Auferstehung“ bei google ein. Christen versichern ihren Glauben an die Auferstehung und das ewige Leben detailliert im apostolischen Glaubensbekenntnis. Die Glaubensformel der Muslime ist kurz und prägnant: „Ich bezeuge: Es gibt keinen Gott außer Allah und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.“ Dennoch geht auch der Islam von der Auferstehung aller Toten am Ende der Weltgeschichte aus: „Nachdem die Geschichte der jetzigen Schöpfung zum Abschluss gebracht worden ist, bevor das ewige Leben in Paradies oder Hölle beginnt, wird Gott die Toten auferwecken.“ [1] Der prophezeite „Jüngste Tag“ ist im Islam, wie im Christentum, göttlicher Gerichtstag. Wie die Christen, sollen auch die Muslime über ihren Gehorsam gegenüber den Geboten der Religion Rechenschaft ablegen. Verpflichtend für sie ist in ihrem Erdenleben zunächst einmal der „große Dschihad“, der sich auf die religiöse und ethische Pflicht zur Selbstbeherrschung und Selbstvervollkommnung bezieht. [2] Friedliebende Muslime – die große Mehrheit – berufen sich auf diese Lebensform und lehnen die Ideologie der Gewalt im Namen Gottes ab.

Zum „kleinen Dschihad“, dem „an Regeln gebundenen Krieg von Armeen“ ist ein Muslim nur aufgefordert, wenn es um die Verteidigung des islamischen Bestandes“ [3] geht. Allerdings: „In der Wahrnehmung der Dschihadisten führt der Westen einen Krieg gegen den Islam. Die Glaubenskämpfer sehen sich als Avantgarde, die im Gegensatz zum muslimischen Establishment die Initiative ergreift, um den Islam zu verteidigen… Der Dschihad ist von den aufrechten Muslimen gegen diejenigen zu führen, die den Islam bekämpfen. Dazu zählen alle Repräsentanten der islamisch geprägten Staaten, in denen die Scharia nicht angewendet wird oder die mit ‚dem Westen‘ gemeinsame Sache machen, vom Staatsoberhaupt bis zum Verkehrspolizisten“.[4]

Dieser „Dschihad“ ist ein (Glaubens-)Bruderkrieg wie es der 30-jährige Krieg in Europa war, eine untrennbare Vermischung von religiösem Furor und territorialen Interessen: „Bestimmte islamistische Strömungen, darunter die Ideologen des IS, erklären ihre muslimischen Gegner pauschal zu Ungläubigen und entfernen sich damit noch weiter von der ‚klassischen‘ Dschihad-Lehre“.[5] Auch das Selbstmord-Attentat ist nicht vom Koran legitimiert. Allerdings kennt der Islam einen Märtyrerkult, den nach 680 die Schiiten entwickelten, als der Prophetenenkel Hussein im Kampf gegen eine andere islamische Streitmacht den Tod fand. „Husseins letzter Kampf [wurde] schließlich zum Vorbild für moderne Selbstmordattentäter – ausgehend vom Ersten Golfkrieg in den 1980er-Jahren zwischen dem Iran und Irak: Da die iranischen Truppen an waffentechnischer Ausstattung ihrem Nachbarn unterlegen, aber zahlenmäßig überlegen waren, setzten sie Soldaten systematisch für Selbstmordkommandos ein… Die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon übernahm dieses Konzept, am Ende auch sunnitische Gruppierungen“[6].

Wenn Selbstmordattentäter zu Märtyrern erhoben werden, stehen ihnen im Jenseits Privilegien zu. Die als „Doomsday Document“ bekannt gewordene Anleitung für die Attentäter vom 11. September verspricht ihnen als Belohnung für ihre Tat: „Und wisst, dass sich die Paradiese für euch bereits mit ihrem schönsten Schmuck geschmückt haben und die Paradiesjungfrauen nach euch rufen: ‚O komm herbei, du Freund Gottes!’“ [7] Ob diese Aussicht genügt, um einem Selbstmord-Attentäter die Todesangst zu nehmen? Das „Doomsday Document“ verweist auf eine Meditations-Technik (dhikr) aus der Sufi-Tradition, „die in ununterbrochener rhythmischer Wiederholung des Namens Gottes oder von Passagen aus dem Koran besteht… und den Ausübenden (in seinem Bewusstsein) mit Gott zu einer Einheit (unio mystica) verschmelzen lässt“. Diese transzendentale Konditionierung sei womöglich „die Bedingung dafür gewesen, dass Menschen zu solch einer ungeheuerlichen Tat überhaupt fähig waren“. [8]

Jedenfalls waren die USA das Angriffsziel stellvertretend für „den Westen“, der in imperialistischer Anmaßung in die Politik islamischer Staaten eingegriffen hatte. Inzwischen hat, wie wir wissen, der „Dschihad“ des IS Europa ins Visier genommen.Wiederum stellt sich die Frage, was junge Muslime, europäische Staatsbürger, zum Märtyrertod motivieren kann, denn darum geht es ja zunächst: sie müssen bereit sein, zu sterben. Ihre Phantasie wird sich, während sie Nagelbomben basteln, gegen ihren Willen auszumalen versuchen, wie es ist, selbst von Nägeln zerfetzt zu werden. Wäre die Zugehörigkeit zu einer depravierten Minderheit in einem Großstadtghetto ein ausreichender Grund zum Selbstmord, käme er häufiger vor. Motive wie Wut und kompensatorischer Größenwahn treiben diese junge Männer vermutlich an, sich dem IS anzuschließen, machen sie aber nicht automatisch zu Massenmördern. Dazu bedarf es der systematischen Konditionierung. Selbst wenn Töten zum täglichen Geschäft wird, schwächt das nicht den Wunsch, zu überleben. Um Selbstbestrafung kann es sich auch nicht handeln, denn der „Dschihad“ rechtfertigt jede Grausamkeit. Für einen 20-Jährigen gibt es mindestens vier Himmelsrichtungen, in denen er einen Ort wie Molenbeek verlassen kann, anstatt sich durch Selbstvernichtung in ein imaginäres Paradies zu expedieren…

Die Antwort muss, scheint mir, in der Kollektivität des „Dschihad“ gesucht werden, in prinzipiell guten Eigenschaften wie Bindung und Verpflichtung. Der Missbrauch des Vertrauens ist die teuflische Methode, die alle menschlichen Hemmungen außer Kraft setzt. Es fällt auf, dass Selbstmordattentäter im Westen nicht als militärische Kommandos auftreten, sondern als Verwandtschafts-Einheiten. „An den Terroranschlägen in Brüssel waren die Brüder El Bakraoui beteiligt. Die Brüder Abdeslam gehörten zu den Tätern vom 13. November in Paris… Im Januar 2015 stürmten die Brüder Kouachi die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Die Anschläge auf den Boston-Marathon 2013 verübten die Brüder Zarnajew. Bei fast allen großen islamistischen Anschlägen im Westen in den vergangenen Jahren spielten Brüderpaare eine entscheidende Rolle“. [9] Womöglich ist das Terror-Netz familiär organisiert wie die Mafia. Das erklärt, warum es so gut wie unmöglich ist, in dieses Milieu Spitzel einzuschleusen. Die Verbindungsleute des IS sitzen, wenn diese Annahme richtig ist, in den von Immigranten kontrollierten Satellitenstädten und fingieren ein vorbildliches Großfamilienleben. Sie haben gewiss keinen Sprengstoff in ihrer Wohnung. Die praktischen Vorbereitungen werden delegiert. Ihre Methode ist die Gehirnwäsche, die umso besser funktioniert, je systematischer alle anderen Einflüsse ausgeschaltet sind. Straffällig geworden zu sein, fördert die Manipulierbarkeit. Die Liebe der Familie, die Ehrung als Held und Märtyrer – das sind die unmittelbaren Belohnungen, die der Attentäter erfährt. Das Versprechen der Auferstehung, die Aussicht auf einen Spitzenplatz im Paradies sind die zukünftigen. Ausschlaggebend aber dürfte die Komplizenschaft mit Brüdern, Cousins, Jugendfreunden sein. Die Vorstellung, dass der Bruder von Dynamit zerrissen wird, ist vielleicht nur zu ertragen, wenn man selbst das gleiche Schicksal auf sich nimmt.

[8] Werner Bartens, Dickes Blut, Süddeutsche Zeitung Ostern 2016