Backflip 1: Zwischen den Kriegen

grosseltern

Meine Mutter war sieben oder acht Jahre alt, als ihr Bruder an einem Blinddarmdurchbruch starb. „Warum der Junge? Warum nicht eines der Mädchen?“ Zu wem sprach meine Großmutter? Zu Gott? Wer diese Worte hörte, war meine Mutter. Nichts in ihrem Leben hat die Kränkung wieder gut machen können.

Auf einem sepiadunklen Familienfoto tragen die beiden Schwestern karierte Kleider und weiße Schleifen im Haar. Meine Großmutter, in hochgeschlossener Spitzenbluse, hat den Arm um meine zukünftige Mutter gelegt. Der Junge im Matrosenanzug, der, wäre er nicht so jung gestorben, mein Onkel Heinrich geworden wäre, steht mit verschränkten Armen neben meinem Großvater, dessen Kopf mit strengem Mittelscheitel und hochgezwirbeltem schwarzen Schnauzbart aus einem steifen Vatermörder wächst. Das Foto muss zu Beginn des Ersten Weltkriegs gemacht worden sein, als mein Großvater noch Fuhrunternehmer in Danzig war. Als seine Pferde für den Kriegseinsatz beschlagnahmt wurden, war er ruiniert. Er selbst wurde an der Front verschüttet. Ich habe ihn erst nach dem Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Einem Kind sind andere Kinder näher als die Erwachsenen, die angeben, diese Kinder gewesen zu sein. Das Foto habe ich auswendig gelernt, indem ich mich in die Kinder versetzte: In das empfindliche kleine Mädchen, das meine Mutter vorwegnahm, in ihre große Schwester, mit der sie sich ihr Leben lang nicht vertrug, in den toten Bruder, der starb, bevor er mein Onkel werden konnte.

Außer ihm gehören alle Personen auf dem Bild in den Abschnitt „Nach dem Krieg“, nicht dem Ersten, der die Kindheit meiner Eltern geprägt hat, sondern dem Zweiten, dessen Folgen mein eigenes Leben beeinflussten. Meine Eltern lebten seit Mitte der 30er Jahre in der Nähe der süddeutschen Flugplätze, auf denen mein Vater jeweils stationiert war; 1945 waren wir keine Flüchtlinge, sondern der westliche Brückenkopf für die Familie, die sich vor den Russen in Sicherheit brachte. Die Erinnerungen, die ich an Danzig habe, sind sehr viel späteren Datums: Mitte der 80er Jahre, nach dem Tod unseres Vaters, organisierten meine Brüder ein Familientreffen im wiederaufgebauten Gdansk; die Reise war ein Geschenk für unsere Mutter, die durch die Gassen lief wie ein tagträumendes Kind, während wir verwundert die Architektur einer Hansestadt zur Kenntnis nahmen, die Lübeck an Prachtentfaltung weit hinter sich ließ, was unserem auf den Westen fixierten Geschichtsblick den Ostseeraum blitzartig öffnete, aber folgenlos blieb, denn der Eiserne Vorhang erschien damals selbst für ein memento undurchdringlich. Keinem von uns im Westen Geborenen wäre eingefallen, eine Revision der Geschichte herbei zu wünschen. Diese „kalte Heimat“ wirkte auf uns in ihrer sozialistischen Gleichförmigkeit trostlos. Die westpreußische Jugend meiner Eltern war in unserem Familienleben nicht präsent. Die in Kupfer gestochenen Danziger Stadtansichten, die sich im Nachlass meiner Mutter befanden, hingen zweifellos auch an unseren Wänden. In Erinnerung geblieben sind mir nur der Mohnblumenstrauß in Öl und das Segelschiff auf wild bewegter See, die kein lokales oder regionales Motiv enthielten. Oder vielleicht doch. Vielleicht hat meine Mutter, ohne sich dessen bewusst zu sein, im Meerblick die Strandwanderungen an der Ostsee wiedererkannt, und in dem Wildblumenstück die Spaziergänge durch die Felder des Marienwerder. Die Stilisierung des Einfachen zum Pompösen entsprach ihrem Wesen.

Ich schreibe meine Biographie in dem Bewusstsein, dass sie, bis auf ein paar bezeugte Fakten und Ereignisse, nicht „wahr“ ist. Sie ist aber auch nicht, wie ein Roman, teilweise oder ganz erfunden. Die romaneske Fiktion habe ich lange vorgezogen, weil sie das lustvollere Schreiben ist, sie lässt den Erzähler-Narzissmus ins Kraut schießen; das schwätzende Ego darf sich kostümieren, schönschminken, zum Helden oder Opfer stilisieren, und wird es zur Rechenschaft gezogen, mag es, je nach moralischem Vermögen, aus der Verwechslung des Autors mit dem Erzähler ein Spiel machen. Im Unterschied dazu setzt sich meine Biographie aus Erinnerungen zusammen, die aus Bildern und Worten abgeleitet sind, Träumen ähnlich, die die Tageswirklichkeit codieren; so dass ich, will ich bei der Wahrheit bleiben, nicht behaupten kann, etwas anderes zu tun, als Geschichten zu erzählen, von denen ich überzeugt bin, dass sie sich ereignet haben. „Wahrheit“ kann immer nur eine Verdichtung von Wahrscheinlichkeiten sein. Dass Zitate so formuliert wurden, wie ich sie wiedergebe, kann ich nicht garantieren, und oft fehlt meiner Erinnerung auch der Zusammenhang, in dem die Worte fielen. Was sie beglaubigt, ist das Gefühl, das sie bei mir auslösten, und das sie aus weniger bedeutsamen Redensarten hervorhebt. Das gilt auch für Erfahrungen und Ereignisse. Gemerkt habe ich mir, was mich bewegt hat.

Im übrigen gehört mir mein Werkzeug nicht, sondern ich ihm. „Sprachbeherrschung“ drückt Überlegenheit aus, wo Bescheidenheit angemessen wäre. Wer schreibt, weiß, wie leicht man von Sätzen, die sich von selbst bilden, davongetragen wird. Jeder, der vergebens das einzig treffende Wort sucht, kennt das Ungenügen, mit dem man sich für das einzig vorhandene entscheidet. Je tiefer wir in den Fundus der Sprache eindringen, desto unermesslicher erscheint er. Aber es sind auch Verluste zu melden. In „Grimms Wörterbuch“ zu blättern, beweist den Verschleiß des Vokabulars. Verschiedene Sprachen zu mischen wäre zeitgemäß, hätte James Joyce es in „Finnegans Wake“ nicht schon vor fast hundert Jahren versucht. Da die Zeit auch über das Zeitgemäße hinweggeht, können Wörter und Wendungen spurlos verschwinden, Idiome können aussterben oder mumifizieren. Die Sprache, in der wir uns verständigen, ist universell wie die Luft, die wir atmen, und veränderlich wie die Wirklichkeit. Sie umgibt uns, hält uns auf dem Laufenden, setzt Patina an, erneuert sich. Kein Wort ohne Aura. Wenn ich schreibe, ergeht es mir jedenfalls so, dass die Wörter Ringe von Assoziationen um sich bilden wie die kreiselnden Mondtrümmer um Saturn. Zum Beispiel löst ein Satz wie „Die Pferde meines Großvaters wurden für den Kriegseinsatz beschlagnahmt“ (ich weiß nicht mehr, wer ihn ausgesprochen hat), Weltkriegsszenen in meinem Gehirn aus, obwohl ich selbstverständlich nie an einer Schlacht teilgenommen habe. Die Kriegsszene mit sterbenden Pferden stammen aus einem Text, den ich im Alter von etwa 20 Jahren las, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Die Bilder stellen sich mit dem Wort „Krieg“ ein. Sie stammen aus einem Text, den ich im Alter von etwa 20 Jahren las, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. „Das Schreien dauert an. Es sind keine Menschen, sie können nicht so furchtbar schreien. »Verwundete Pferde.« … Es ist der Jammer der Welt, es ist die gemarterte Kreatur, ein wilder, grauenvoller Schmerz, der da stöhnt… Einige galoppieren weiter entfernt, brechen nieder und rennen weiter. Einem ist der Bauch aufgerissen, die Gedärme hängen lang heraus. Es verwickelt sich darin und stürzt, doch es steht wieder auf.“ Seither gehören meines Großvaters Pferde zu den schmerzhaften Elementen meiner Erinnerung. Mit seinem persönlichen Drama, ausgedrückt in den Worten, „er wurde an der Front verschüttet, danach war er nicht mehr er selbst“, habe ich mich weniger beschäftigt. Das lag wohl an seiner Tochter, meiner Mutter, die den zweiten Teil des Satzes betonte. Er sei nicht mehr ansprechbar gewesen; er habe getrunken. (Er war ein Versager). Erst jetzt fange ich an, darüber nachzudenken, wie man sich verändert, wenn man tagelang verschüttet war. Die Traumatisierung der Soldaten durch ihre Kriegserlebnisse ist erst seit dem Vietnamkrieg ein Thema. Vielleicht wäre meine Mutter verständnisvoller gewesen, wenn wir bei dem großen Bombenangriff auf K. ebenfalls verschüttet worden wären. Dazu hätte eine der Bomben unser Haus treffen müssen, wie die Häuser nebenan und gegenüber. Das hätten wir aber vermutlich nicht überlebt, denn der Kartoffelkeller, in dem wir kauerten, war nur durch eine Betonumbauung des Fensters gegen Splitter geschützt. „Bumbumbum“, quengelte mein zweijähriger Bruder. Ich leierte vorsichtshalber „lieber Gott mach mich fromm dass ich in den Himmel komm“ herunter. Meine Mutter hielt das schreiende Baby fest. Sie war still wie immer. Ich kannte sie lange nur als eine schweigende Person. Wir hatten Glück an diesem 23. Februar 1945, als amerikanische Flugzeuge die fränkische Kleinstadt bombardierten und 700 Tote zurückließen. Als es vorbei war, hörte ich meine Mutter mit den Nachbarinnen Namen abgleichen: Der und der, die und die sind tot, auch die Kinder. Ich tat wichtig: Auch ich müsse sofort in die Stadt und nach meinen Freundinnen Ausschau halten. Meine Mutter verbot mir, das Haus zu verlassen. Ob ich ihr entwischt bin, wie ich mir einbilde, kann ich nicht sagen. Schilderungen und Fotos haben sich in meiner Erinnerung festgesetzt, als hätte ich die blassen Leichen im Trümmerstaub mit eigenen Augen gesehen. Wenn ja, waren sie nicht identisch mit den Lebenden, nach denen ich suchte. Tote sind Fremde.

Meine Mutter war das verwöhnte Kind verarmter Eltern. Ein wohlhabender Patenonkel hatte das hübsche junge Ding mit Kleidern und Zubehör ausgestattet, um ihm eine vorteilhafte Heirat zu ermöglichen. Das kleine Fotoalbum aus jener Zeit, das sie zwischen ihren Briefen oder bei ihrem Schmuck aufbewahrt haben muss, denn es tauchte erst nach ihrem Tod auf, dokumentiert, wie sie war (und ihr Leben lang blieb): Kapriziös, kokett und immer perfekt gekleidet. Sie war von Verehrern umgeben, die eine gute Partie darstellten. Mit einem von ihnen, der ein Auto besaß, war sie sogar heimlich verlobt – was nicht etwa hieß, dass sie mit ihm schlief.

kuehlerfigurDie kostbarste Mitgift von Kleinbürgermädchen wie ihr war ihre Jungfräulichkeit. Vielleicht hätte der junge Mann mit dem Auto sie auch bei vorgezogenem Vollzug geheiratet, denn er war Zivilist und brauchte keine Rücksicht auf einen Ehrenkodex zu nehmen, wie mein Vater, der ein Leben in Uniform vor sich hatte, und auf den sie sechs Jahre lang wartete. Garantiert ohne Sex. „Er hätte mich nicht zur Frau genommen“, beteuerte meine Mutter. Mädchen, die einen Liebhaber hatten, und dann womöglich noch einen und noch einen, nannte man in ihren Kreisen „Rundreisebillett“. Dreißig Jahre später, als ich selbst einen Liebhaber hatte, und davor einen und danach einen – ich stand damals auf der gleichen Unterschriftenliste wie Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer, Romy Schneider, Senta Berger – warnte sie mich mit dieser kuriosen Qualifikation davor, auf die „schiefe Bahn“ (noch so ein Wort) zu geraten. Es vergingen weitere dreißig Jahre, bis sie mir gestand, dass sie in ihrem ganzen Leben keinen Orgasmus erlebt hatte. Selbst das Wort war ihr ein halbes Jahrhundert lang vorenthalten worden. Irgendwas Obszönes. Das passte zu meinem Vater. Vielleicht wären meine Eltern miteinander glücklich geworden, wenn sie, statt sich in Enthaltsamkeit zu üben, ihrer Sinnlichkeit nachgegeben hätten. Wie soll denn das gehen: eine glückliche sexuelle Beziehung nach sechs Jahren Knutschen in den Dünen. Hände weg. Nein, nein. Enttäuschung um Enttäuschung; beiderseits.

flugschein-fotoWarum hatte meine Mutter dem tadellosen Großstädter H. S. den jüngsten, also erst an dritter Stelle erbberechtigten, Bauernsohn und Wachtmeister der berittenen Danziger Schutzpolizei W. H. vorgezogen? Seit ich – erst kürzlich – die Briefe gelesen habe, die im Nachlass meiner Mutter in einem Umschlag mit der Aufschrift „Der Anfang“ steckten, glaube ich den Grund zu kennen. Er hat sie über alles geliebt. Diese Briefe meines Vaters, in denen er rührend ungeübt, auf der Suche nach dem genauen Ausdruck, der jungen Frau, die ihm wie ein Wesen aus einer höheren Welt erschien, seine Gefühle zu beschreiben versucht, seine überschwängliche Freude, wenn er sie treffen durfte, die Leidenschaft, die sie in ihm erweckte, verändern jetzt, fünfunddreißig Jahre nach seinem Tod und meiner lebenslanger Auseinandersetzung mit ihm, noch einmal das Bild, das ich von ihm habe. Ich bedaure, dass ich nicht mehr von ihm gewusst habe. Meine Erinnerung an ihn hätte mehr helle Stellen. Freilich war ich darauf angewiesen, wie er mir begegnete, und das war mit Gewalt. Die große Liebe meine Eltern, die erst der Tod schied, war, ohne dass sich irgendjemand darüber Rechenschaft ablegte, vergiftet, denn sie schlugen ihre Kinder. Ob das die Ursache oder die Folge der Vergiftung war, kann ich nicht beurteilen; ganz abgesehen davon, dass meine ganze Generation noch Prügel bezog. Aber es war so; und missbrauchte Kinder verzeihen nicht.

Er habe sie gerührt, sagte meine Mutter. Einmal habe sie beobachtet, wie er unter dem Tischtuch mit irgendeinem Gegenstand seine Fingernägel säuberte. Das warf ein Licht auf ihre spätere Tyrannei. Der Bauernbub war kein Mann, dem sie sich unterlegen fühlen musste. Wenn sie für ihre Mutter ein Kind zweiter Klasse war, kam nur ein Mann infrage, für den sie eine Königin war. Sechs Jahre hat sie auf ihn gewartet: bis er das Externen-Abitur (1931), das Parteibuch der NSDAP (1933), den Flugschein (1934) und das für die Landespolizei vorgeschriebene Heiratsalter (27) hatte. Ob meine Mutter den Steno- und Schreibmaschinenkurs, den sie absolviert hatte, jemals in Erwerbsarbeit umgesetzt hat, weiß ich nicht. Ihre selbst genähte, gestickte, gehäkelte Aussteuer war jedenfalls eine kostbare Mitgift. Ich besitze heute noch Teile davon, vor allem die unverwüstlichen Damasttischtücher und Servietten mit ihrem eingestickten Monogramm, und ich denke manchmal darüber nach, dass es für eine verliebte Braut früher vielleicht wirklich keine schönere Beschäftigung gab, als Schlager summend für eine Zukunft als Ehe- und Hausfrau Handarbeiten zu machen. Liebling, mein Herz lässt dich grüßen. Wenn sie bei ihren zukünftigen Schwiegereltern auf dem Hof im Marienwerder zu Besuch war, kam es vor, dass mein Vater mit einer ausgeliehenen M 23 eine Runde über dem Grundstück flog, rote Rosen abwarf und flügelschwenkend abdrehte. Auf dem Flugschein steht ein falsches Geburtsdatum und kein Vorname. Was hat er vertuscht?

Am 1. August 1935 fand die Trauung in der Danziger Marienkirche statt. So nimm denn meine Hände. Meine exkommunizierte Großmutter litt, denn mein Großvater hatte sein Versprechen, die gemeinsamen Kinder katholisch zu erziehen, nicht gehalten, und das war nun eine der Folgen. (War der Tod des Sohnes eventuell die Strafe Gottes?) Wer weiß, ob das Unglück unserer Familie nicht viel tiefer als eine Generation in die Familiengeschichte zurückreicht. Dabei hatten wir mehr Glück als andere. Wir waren keine Flüchtlinge. In Westpreußen ging nur das Erbe verloren. Wir wurden kein einziges Mal ausgebombt. Die schweren Möbel meiner Eltern machten alle Umzüge mit, zuletzt, als künftiger Nachlass, in den Container eines Lagerhauses. Meinen Vater hatte am 10. Februar 1943 auf dem Flugplatz von Stalino ein Bombensplitter verwundet, woraufhin er nach Berlin ins Luftfahrtministerium versetzt wurde. Das war ein sicherer Ort mitten im bombardierten Berlin. Immer, wenn ich an dem mächtigen Gebäude vorbeikomme, das im Krieg kaum beschädigt wurde, denke ich daran, dass er zu den Privilegierten dieses Krieges gehört hat. Er geriet in britische Gefangenschaft und wurde noch 1945 entlassen. Dass wir Kinder nicht vaterlos blieben, kam uns nicht zugute. Vielleicht wären wir alle drei friedlicher aufgewachsen ohne ihn. Zwar hat die Mutter uns auch geschlagen, sogar das Kleinkind im Gitterbett, weil es nicht aufhören wollte zu schreien, aber nicht mit der Siebenschwänzigen auf den nackten Hintern, wie der Vater meine Brüder. Heute weiß ich, dass unter den traumatisierenden Erlebnissen meiner Kindheit nicht die „Abreibung“, die mein Vater mir ein paar Wochen nach seiner Ankunft verpasste – ich merkte, dass er zögerte und war völlig überrascht, als er mich packte und übers Knie legte – das Schlimmste war. Dass dies kein Zornesausbruch war, sondern ein prämeditiertes Strafgericht, kostete ihn meine Liebe und mich mein Vertrauen in die Welt. Vielleicht war es Eifersucht. Er brauchte meine Mutter, der ich durch die Ängste und Anstrengungen des Krieges eng verbunden war. Ich hatte ihr zur Seite gestanden, ich war ihre Vertraute, ich wollte nicht weichen; er musste sich die Rivalin vom Hals schaffen. Das gelang ihm; ich wurde scheu und verdruckst, zumal mich meine Mutter fallen ließ. Jetzt sei ja der „Vati“ wieder da, rechtfertigte sie sich. Ich war acht Jahre alt. In einem regelmäßig wiederkehrenden Traum, der sich erst nach Jahren verlor, verfolgte mein Vater mich als Tiefflieger, um mich zu töten, wie es die britischen Piloten versuchten, wenn wir auf der Straße spielten und Nachbarn uns in im letzten Moment in die Hausflure zogen. Ich erinnere mich noch an ein Flugzeug, das still wie eine Riesenlibelle über die Dächer kippte, und an das plötzliche Rattern der MGs. Mein Vater ein Killer, meine Mutter eine Verräterin. Am schlimmsten war, was sie meinen jungen Brüdern antaten. Eine Familie kann, wie ich inzwischen weiß, Schutz und Zuflucht sein. Unsere war es nicht.

Meine Großmutter, die aus Danzig nach Dänemark evakuiert worden war, schloss sich uns an, zuletzt auch mein den Russen auf anderem Weg entkommener Großvater. Tante Lotte, die ältere Schwester meiner Mutter, mit ihrer halbwüchsigen Tochter lebten ein paar Monate bei uns, bis meine Cousine sich einen GI angelte und mit ihm in die USA ging. Meine Tante folgte ihr und der Dauerstreit zwischen meiner Mutter und ihr hatte ein Ende. In dem Stelzenhaus aus dunklen Pfeilern und Brettern am Strand des Pazifik in den Außenbezirken von San Francisco, wo ich sie 1980 besuchte, erklärte Tante Lotte mir, warum sie den Kontakt zu ihrer Schwester abgebrochen habe. Meine Mutter habe die ihr aufgezwungenen Flüchtlinge tagtäglich gedemütigt – nicht etwa trotz der nahen Verwandtschaft, sondern ausdrücklich deswegen. Die Einquartierung störte sie weniger wegen unserer eingeschränkten Lebensverhältnisse, sondern weil auf diese Weise offenbar wurde, dass meine Mutter, die Frau eines Generalstabsoffiziers (Kriegsverlierer oder nicht), aus nicht salonfähigen Verhältnissen stammte. Tante Lotte hatte einen Handwerker geheiratet, von dem sie inzwischen geschieden war, und meine Cousine ging mit amerikanischen Soldaten aus; damit war kein Staat zu machen. Aus diesem Grund habe meine Tante auch gezögert, mich willkommen zu heißen, als ich sie aus dem Hotel in San Francisco anrief und meinen Besuch ankündigte. Ich sei nicht meine Mutter, sagte ich und verbesserte mich: Ich sei nicht wie meine Mutter. „Wärst du nicht wie sie“, antwortete die Tante düster, „hättest du deine Kindheit nicht überlebt“. Daran war etwas Wahres. Ich habe mich mein Leben lang damit herumgeschlagen, dass ich den Klon gab und wie meine Mutter sprach, handelte, vielleicht sogar dachte, während der authentische, aber kraftlose Teil meines Ichs solches Reden und Handeln sabotierte. Meine Mutter hatte mich nach ihrem Bild geformt und fallen lassen, als sie mich nicht mehr brauchte; und als sie mich wieder brauchte, ließ ich alles stehen und liegen, um mich in ihren Dienst zu stellen; damit ist mein Leben bis zu ihrem Tod beschrieben. Am Ende eines langen Prozesses konnte ich die Person, die ich sein sollte, aber nicht sein wollte, ablegen, obwohl es Dinge gibt, von denen ich mich seltsamerweise nicht trennen will– die Pelzkragenkostümchen, die Krokodillederhandtäschchen, die Spitzenblüschen. Ich trage sie zwar nicht, gebe sie aber auch nicht weg. Den Schmuck habe ich bis auf eine kleine Perlenkette unter meine Geschwister verteilt. Dass ich diese Perlenkette kürzlich verloren habe und nur mäßig traurig darüber bin, ist wohl ein Zeichen. Verlieren bedeutet Verlust. Verlust bedeutet: etwas los zu werden.